Ein wenig vor der verabredeten Zeit lief Jade ziellos durch die Gegend und suchte nach der Bar, zu der ihr Freund sie bestellt hatte. Sie erkannte den Platz als den wieder, auf dem der Flohmarkt stattgefunden hatte, und hatte auch einige Imbißbuden gesehen, aber er hatte den Ort als eine winzige Bar bei den Docks beschrieben.

Die Frau starrte eine weitere Straße entlang. "Nein, das sind alles Büro- oder Wohngebäude. Außerdem liegen die Docks in der anderen Richtung." Murrend lief sie zurück. Noch hatte sie Zeit, aber wenn es knapp wurde würde sie Caleb anrufen und nach der genauen Adresse fragen müssen. Dennoch ließ sie sich von der Meeresbrise ablenken. "Das ist schon echt klasse hier!" meinte sie zu sich selbst und trat auf die Aussichtsplattform. Das Wasser war ruhig und erstreckte sich wie ein wunderschöner blauer Teppich weit in den Horizont hinein. Stadtteile räkelten sich bis an die Ufer, und in weiter Ferne sah sie die gewaltige Brücke, welche die Meerenge überspannte. "Das ist schon eine andere Aussicht als der Kanal bei mir daheim." Jade lehnte sich für eine Weile auf das Geländer und genoß die warme Sonne im Gesicht. Ihr war heute so seltsam kalt.

"Jade?" erklang es auf einmal hinter ihr. Sie wandte sich um und war gleichermaßen überrascht wie erleichtert, Caleb auf der Straße zu sehen. "Oh, hallo Caleb! Tut mir leid, bin ich jetzt doch zu spät?"
"Nein, ich bin zu früh. Warum bist du hier draußen?"
"Ich hab die Bar nicht gefunden. Magst du einen Moment mit mir das Meer ansehen? Es ist atemberaubend!"
Er blinzelte angespannt in die Sonne und wandte dann den Blick ab. "Es tut mir leid, das ist mir im Moment zu hell. Ich gehe schon mal hinein, die Bar ist dort drüben. Bis gleich, Teuerste!"

Jade sah ihm besorgt nach. Ihr Freund sah heute noch ein wenig bleicher aus als sonst, und sehr, sehr müde, auch wenn er es zu verbergen versuchte. Ob er Kopfweh hatte und es ihm deshalb zu hell war? Vielleicht hätte sie ihm ein paar Tabletten mitbringen sollen, sie selbst hatte auch bereits eine intus. Bestimmt hatte er kaum geschlafen. Sie folgte ihm rasch und ärgerte sich nebenbei, daß sie diese kleine Karaokebar, die sich zum Meer hin öffnete, bislang übersehen hatte bei ihrer Suche.

Außer ihr und Caleb war nur ein einziger anderer Gast im Lokal, ein junger Mann, der sich im hinteren Bereich des Ladens aufhielt. Ansonsten war da nur die Barmixerin, eine Frau mit roten Haaren und schwarzem Hemd, die professionell, aber nichtssagend lächelte. Jade nickte ihr zu und widmete sich zunächst ihrem Freund, den sie fest in die Arme schloß. "Nochmal hallo!" - "Hallo Jade. Danke, daß du Zeit für mich hast." - "Für dich doch immer!" versicherte sie ihm und wunderte sich, daß er sie so lange umarmte. Fast, als habe er Angst sie loszulassen.


Sie setzten sich an die Bar und bestellten der Höflichkeit halber einen Cocktail mit sehr wenig Alkohol und viel Frucht. Eigentlich hätte Caleb sich lieber mit Jade in eins der Separees mit Sesseln zurückgezogen, aber der Laden war wirklich sehr klein und ein Mann in Lederjacke führte dort offenbar eine ernste Unterhaltung mit einer Topfpflanze. Also mußte die Bar zum Sprechen herhalten. Wenigstens war die Dame hinter der Theke höflich genug so zu tun, als sei sie mit dem Mixen ihrer Bestellung vollauf beschäftigt und höre ihnen nicht zu.

Jade war immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen und war froh sitzen zu können. Ihr Kopf pochte nach all dem Herumirren, und sicher würde sich der Drink später rächen, auch wenn er recht harmlos war. Sie lächelte trotzdem so fröhlich sie nur konnte und fragte: "Wie läuft es mit eurem Projekt? Ist alles im Zeitplan?"
"Ja, danke. Wir kommen gut voran. Natürlich ist das dennoch nicht meine Vorstellung von einem guten Wochenende." Ein wenig seiner üblichen Schalkhaftigkeit stahl sich in seinen Blick zurück, und sie lächelte noch breiter, auch wenn davon ihr Kopf deutlich mehr dröhnte.
"Wer arbeitet schon gerne am Sonntag? Aber mal ernsthaft, Caleb, du siehst aus, als hättest du kein Auge zugemacht."
"Es ist wirklich alles in Ordnung, Jade." Seine Stimme klang nun ein wenig gepreßt, und sie ließ das Thema ruhen, auch wenn sie sich ein wenig darüber wunderte, daß er trotz all dem Streß keine Bürokleidung trug. Durften CEOs tragen, was sie wollten, und er ging doch so ins Büro?
"Schön", meinte sie statt danach zu fragen, "Ich freue mich natürlich, daß du dich mit mir treffen wolltest, aber gab es dafür auch einen Grund?"
"Wir sehen uns viel zu selten, und ich konnte all die langen Gesichter im Büro einfach nicht mehr sehen. Erzähl mir von deiner Woche, Jade, und erhelle meine Pause."
"Ach, da gibt es nicht viel zu berichten..." begann Jade, woraus dann doch eine kleine Plauderei wurde.

Nach einigen Minuten nahm der Vampir sie genauer in Augenschein. Irgendetwas lag in ihrer Stimme, das ihn aufhorchen ließ. Sie klang angestrengt und unecht. Wollte Jade gar nicht hier sein? Es war ihm vorher nicht aufgefallen, aber sie sah ein wenig blass und übernächtigt aus. Da er immer noch nicht wußte, wie er das Thema beginnen sollte, und außerdem erst warten wollte, bis die Bartenderin ihre Drinks serviert hatte und sich anderen Dingen widmete, beschloß er seine Freundin darauf anzusprechen. "Jade, verzeih mir bitte den nicht sehr höflichen Kommentar, aber du siehst heute selbst nicht gut aus."
"Ach, es ist nichts!" winkte sie ab. "Ich hab schlecht geschlafen, hatte wohl einen Alptraum oder sowas. Jetzt tut mir schon den ganzen Tag der Kopf davon weh, aber es ist nichts schlimmes."
"Hättest du doch etwas gesagt, wir hätten uns nicht treffen müssen!"
"Eben weil ich mit einem solchen Kommentar gerechnet hatte, habe ich nichts gesagt! Ich kenne dich gut genug!"


"Erwischt!" Sie lachten beide ein wenig, auch wenn ihnen aus verschiedenen Gründen nicht danach war. Für einen Moment sahen sie der Mixerin zu, die äußerst geschickt drei Flaschen gleichzeitig hantierte, um ihre Getränke anzurühren. Der Mann in ihrem Rücken stritt inzwischen laut mit der Topfpflanze, und erneut kicherten beide. Sie warfen verstohlene Blicke über die Schultern. Die Bartenderin, der das auffiel, reckte sich und rief hinüber: "Akira! Laß die arme Yucca Palme in Ruhe, ja? Die kann nichts dafür! Geh nach Hause und wein dich bei deinem Kopfkissen über den verlorenen Karaoke-Wettbewerb aus." - "Schon gut, Mel! Bin schon weg!" Der junge Mann spurtete zur Tür hinaus und verschwand außer Sicht.
"Tut mir leid. Stammkundschaft darf schon mal mit den Pflanzen streiten, aber er ist harmlos." Mit einem geschäftsmäßigen Lächeln servierte die Mixerin ihnen ihre Getränke, kassierte, wobei Caleb wortlos für beide Drinks zahlte, und trat zurück, um so zu tun, als hätte sie Gläser zu polieren.

Caleb war nicht danach seinen Cocktail zu probieren, und auch Jade rührte ihren nicht an.
"An was denkst du gerade?" fragte sie, als er zu lange in sein Glas gestarrt hatte.
Er schrak auf. 'An dein Gesicht, wenn ich dir sage, daß ich ein Vampir bin', dachte er, bekam es aber nicht über die Lippen, und er verstand nicht einmal wieso. Normalerweise hatte er kaum Skrupel allen und jedem zu zeigen, wer und was er war, aber bei Jade war es anders. Sie hielt ihn nun schon so lange für einen Menschen, daß das einseitige Geheimnis fast ein Teil ihrer Freundschaft geworden war. Sie mußte seine Fänge sehen können, aber sie sagte nichts. Es fiel ihr auf, wenn er seine Rauchgestalt annahm und an ihr vorbeifegte wie der Wind, aber sie sagte nichts. Konnte er überhaupt sicher sein, daß sie es wirklich nicht wußte? Doch wenn sie es wußte, warum sagte sie dann nichts? War sie dermaßen höflich? Oder hatte sie Angst es anzusprechen und irgendetwas zwischen ihnen zum Negativen zu verändern?

"Hey!" holte sie ihn in die Realität zurück. "Normalerweise ist das Abdriften in entfernte Dimensionen doch mein Job! Bist du schon im Koma, oder was?"
Caleb sah sie an und lachte, und auch sie mußte kurz kichern. Er meinte: "Herrje! Ich muß wirklich müde sein, wenn es mir gelingt meine reizende Spinnerin zu überhören!"
"Glücklicherweise bist du auch in diesem Zustand so attraktiv, daß es nicht weiter auffällt, solange man nicht gerade mit dir redet." Nachdem sie das gesagt hatte versteckte sich Jade erst einmal hinter ihrem Getränk und nippte sehr langsam daran. 'Oh, du meine Güte! Ich habe es schon wieder geschafft ihm ein Kompliment zu machen!'  Ihr Herz pochte wie wild, auch wenn sie sich ein wenig schlecht damit fühlte. Ihm ein Kompliment zu machen, während er halbtot aussah, war nicht gerade nett. Aber er sah wirklich unheimlich gut aus, wenn er so ernst schaute. Dennoch war ihr sein Lächeln tausendmal lieber, und nun war es echt.
"Mir gefällt diese neue schlagfertige Jade, die nette Dinge sagt."
"Danke!" brachte sie nur verlegen hervor.

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