"Wo ist er denn bloß?" murmelte Jade nervös und fragte sich, ob es in Oasis Springs mehr als ein Fitneßstudio gab. Sie hatte es zunächst bei den Umkleidekabinen und danach am Boxstudio betreten, Caleb aber nirgendwo gesehen. Also hatte sie sich umgezogen, ihre Sachen im Spind verstaut und erneut nach ihm gesucht, aber weiterhin kein Glück gehabt. Nun lief sie einmal um das Studio herum.

Nachdem sie es mindestens halb umrundet hatte sah sie einen jungen Mann in Sportkleidung auf dem Bürgersteig warten, der ihr den Rücken zuwandte. Von den Haaren her konnte es ihr Freund sein, aber sie war nicht sicher, da der charakteristische Ohrring ihr nicht entgegenblitzte und auch das Outfit völlig unpassend war.
Sie joggte zu ihm hinüber und fragte vorsichtig: "Caleb?" Sofort wandte der andere sich zu ihr um und sie erkannte ihren Freund. Er sah sie an und strahlte über das ganze Gesicht. "Jade Sparkle! Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt!" - "Ich war beim anderen Eingang und wußte nicht, daß es zwei gibt." Hinter ihm sah sie das große Schild über einer Glasfront mit breiter Tür, und direkt neben ihnen war ein weiteres Werbeschild. "Ich hab dich gesucht." - "Ich dich auch! Da haben wir uns wohl gegenseitig verpaßt." Er lachte glücklich, und in Jade explodierten die Schmetterlinge.

Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber sicher nicht das. In den vier Monaten, die sie sich nun kannten, hatte sie Caleb niemals in etwas anderem gesehen als seinem penibel zusammengestellten Goth-Outfit. Sie kannte ihn nur im feinen Hemd mit Goldbesatz, Rüschen und gestärktem Kragen und mit seinem fast knielangen Jackett mit den Pelzbesätzen. Jetzt stand er hier vor ihr in einem figurbetonenden weißen T-shirt, dessen Druck einen stilisierten Totenkopf darstellte, in bequemen schwarzen Sporthosen und Turnschuhen. Er war so... normal. Das monochrome Outfit ließ sogar seinen Teint gesünder erscheinen als sonst, obwohl er sicher selten so viel Haut an die Sonne ließ wie in diesem Shirt, und er war tatsächlich fast jungenhaft schlank, aber gleichzeitig so energetisch wie selten zuvor und unbefangen und selbstbewußt wie immer. Jade wünschte sich, sie hätte ihren Trainingsanzug rechtzeitig waschen können statt wieder ihr knappes Zweitoutfit tragen zu müssen, aber der Termin war zu kurzfristig gewesen. Ihr Freund war so unglaublich attraktiv, daß sie fürchtete sterben zu müssen, falls er sie in ihrem Aufzug umarmen sollte.


Caleb beobachtete sie aufmerksam, bemerkte auch ihren bewundernden Blick und verkniff sich ein Grinsen. Ihm war bewußt, daß er gut aussah, wie immer, und daß seine Begleiterin diese sportliche Seite an ihm noch nicht kannte. Also ließ er sie ein wenig schauen. Eigentlich war er so erleichtert, daß sie gekommen war und die Geheimniskrämerei zwischen ihnen endlich ein Ende finden würde, daß er sie gerne zur Begrüßung umarmt hätte, doch sie trug wieder dieses enge Ensemble, bei dem ihr das sicher nicht recht gewesen wäre.

Da sie ihn neugierig beäugte ließ er es sich nicht nehmen sie ebenfalls genauer in Augenschein zu nehmen. Sie kam ihm dünner vor. Waren das noch die Auswirkungen der Erkältung oder etwa Streß von der Arbeit? Oder täuschte der Eindruck nur, weil sie sonst ihren schlabbrigen Pulli und die Rüschenshorts trug? Sie war sehr weiblich und schön, doch er hatte sie kurviger und stämmiger in Erinnerung, erinnerte sich noch daran sie bei ihrer ersten Begegnung im Geiste mit einer klassischen Statue verglichen zu haben.
Caleb stutzte. Was ging es ihn an, wieviel Jade wog oder wie gut sie an einem individuellen Tag aussah? Ihr Gesicht jedenfalls leuchtete ohne ihre Mütze erneut wie ein Stern, und sie schien wieder einmal Kontaktlinsen zu tragen.

Wenn er es genau betrachtete glühten ihre Wangen sogar. Was auch immer ihr gerade durch den Kopf ging mußte sehr anregend sein, dabei sollte von seinem vampirischen Charme bei diesem Wetter nicht viel zu bemerken sein. Färbte Beryls Einfluß etwa doch bereits auf seine Freundin ab und sie dachte an Fantasien, welche die Rothaarige ihn betreffend von sich gegeben hatte?
Belustigt schmunzelnd berührte er sie statt einer Umarmung am Arm, um sie aus ihrem Tagtraum zurückzuholen, ehe sie noch anfing ihn mit den Augen auszuziehen. Jade schrak mit einem regelrechten Keuchen zusammen, ehe sie ihn schuldbewußt anschaute.
Er fragte: "Gehen wir hinein? Du wirst schon ganz rot von der Sonne, das ist nicht gut."
"Äh, ja! Gute Idee! Wir sind ja zum Sport hergekommen und nicht zum Sonnenbaden."
"Du wirst lachen, aber es soll Pläne geben dieses Studio demnächst mit einem Pool nachzurüsten. Dann könnten wir beides tun, vorausgesetzt du verzeihst es mir, wenn ich vom Schatten aus zusehe!"
"Echt? Wo soll der denn hier noch hinpassen?" murmelte sie erleichtert über die Ablenkung und folgte ihm ins schattige, klimatisierte Gebäude.

Auf Höhe der Bar blieb der Vampir erneut stehen, weil ihm etwas wichtiges einfiel. "Ehe ich es vergesse, Jade: Hast du nach deinem Anruf deinen Chef noch einmal gesehen?"
"Nein, glücklicherweise nicht. Ich glaube, ich hätte ihm nicht in die Augen sehen können ohne etwas zu sagen."
"In dem Fall wirst du dich sicher freuen zu erfahren, daß du ihm nie wieder begegnen mußt."
"Was?! Was soll das heißen?" erkundigte sie sich mit vorsichtiger Hoffnung.
Caleb sah sie an. "Deine Vorwürfe waren berechtigt. Die Buchhaltung hat sich mit der Angelegenheit intensiv beschäftigt und kam heute zu uns, ohne deinen Namen zu nennen. Es war offensichtlich, daß er sich die Taschen mit Firmengeldern gefüllt hat. Das ging schon seit Jahren so, denn wie die Nachforschungen ergaben hat dein Vorgänger mit ihm gemeinsame Sache gemacht. So konnten sie es dermaßen lange vertuschen. Von daher, nun offiziell im Namen der Firma, danke für deine Aufmerksamkeit, Jade Sparkle! Du hast unserer Rechtsabteilung ein schönes Stück Arbeit beschert."

Jade war so erleichtert, daß sie sich für einen Moment auf einen Barhocker stützen mußte. "Meine Güte, ich bin so froh, daß ich keine Gespenster gesehen habe!"
Sie so zu sehen zementierte seinen Entschluß ihr nicht zu verraten, daß sie schon bald die neue Gebietsleiterin werden und somit die Nachfolge ihres bisherigen Chefs antreten würde. Es war ihm sehr recht gewesen, daß er nichts dazu hatte sagen müssen. Die Personalabteilung hatte sie schon eine Weile im Blick gehabt und auf eine passende Stelle für sie gewartet, und ein Kollege hatte ohne zu zögern angekündigt die Unterzeichnung der Papiere vorzunehmen, sobald sie fertig waren. Nach dieser Veruntreuungssache wollte Caleb auf jeden Fall vermeiden, daß Gerüchte über Vorteilsnahme aufkamen, falls er auf einer Firmenfeier auf Jade treffen sollte und ihre Freundschaft bekannt würde. So lief nun alles korrekt ohne sein Zutun ab, und er konnte sich ihre Reaktion gut genug vorstellen, um ihr die Überraschung zu gönnen es ohne sein Beisein zu erfahren. Es würde noch genug Gelegenheiten geben sie vor Aufregung über andere Themen ausflippen zu sehen.

"Kommst du mit zu den Laufbändern?" fragte er sie, als sie aufgehört hatte zu zittern. Jade sah sich unsicher um. Es waren um diese Zeit nicht viele Leute im Fitneßstudio, aber sie fühlte sich noch ganz schwach vor Erleichterung. "Ich glaube, ich würde lieber so ein Gerät da ausprobieren. Rennen kann ich auch daheim."
Er verzichtete darauf ihr zu erklären, daß ein Laufband durchaus anspruchsvoller sein konnte als ihr üblicher Joggingpfad. Sollte sie sich ruhig am Gewichtheben versuchen. Sie fragten die Trainerin, wie das Gerät richtig einzustellen war, und als das erledigt war und sie sich trennten machten Caleb erstmal große Augen. "Das sind mehr Laufbänder als sonst", wandte er sich an die Trainerin, "Sind die reserviert?" - "Nein, wir haben einige Nachfolgemodelle zum Testen aufgestellt. Laß uns doch hinterher wissen, ob sie die Anschaffung wert sind!" informierte ihn die Trainerin und wanderte zum Boxstudio hinüber, um dort auszuhelfen.


Eins der zusätzlichen Laufbänder stand mitten vor der großen Spiegelwand. Der Vampir konnte sein Glück nicht fassen. Er programmierte die gewünschte Trainingsstrecke und begann zu joggen. Der heutige Tag lief fast zu perfekt. Sie hatten beide gute Laune. Jade würde bald befördert. Das Laufband war sowohl angenehmer als das alte Modell als auch perfekt positioniert. Nicht nur, daß Jade es einfach bemerken mußte, daß er im Spiegel nicht zu sehen war, er selbst konnte sie auch noch unauffällig beobachten und auf ihre Reaktion warten. Allerdings mußte er aufpassen, nicht vor unterdrücktem Kichern zu stürzen, denn trotz ihrer guten Figur machte sie an dem Gerät keine solche. Schließlich zog sie schon mit beiden Händen an einem Griff und bekam das Gewicht trotzdem kaum gehoben.
'Nunja, lach nicht zu sehr', schalt er sich selbst. Ja, er könnte das heben, aber nicht, weil er jemals an seiner Arm- oder Brustmuskulatur gearbeitet hatte, sondern nur, weil er ein Vampir und damit weitaus kräftiger als ein Mensch, insbesondere eine menschliche Frau, war. Nicht umsonst strengte ihn das Laufband ebenfalls an, er war einfach viel zu oft per Rauchgestalt unterwegs.

So oft er es auch prüfte, seine Begleiterin schien nie zu ihm zu sehen, sie war viel zu beschäftigt mit ihren Bemühungen. Irgendwann gab sie allerdings genervt auf und schaute doch unschlüssig zu ihm herüber. Es war schwierig, sich im Laufen auf ihr Spiegelbild zu fokussieren, daher ließ er das Programm wie zufällig auslaufen und stieg vom Band, um sich ein letztes Mal zu dehnen. Er war kaum ins Schwitzen geraten, aber er war heute ja nicht wirklich zum Trainieren hier. Hatte sie es gemerkt oder nicht?
Caleb lächelte sie an und schlenderte zu seiner Freundin hinüber, wobei er darauf achtete den Spiegel im Rücken zu behalten.
"Ist das Gewicht doch noch zu stark eingestellt?" fragte er sie freundlich, woraufhin sie seufzte. "Zumindest zu stark für meine Gummiarme!" - "Nur nicht verzweifeln, das war dein erster Versuch, und du warst vor kurzem noch krank." Der Vampir bemerkte, wie ihr Blick von seinem Gesicht über seine Schulter wanderte. Dann wurde sie aschfahl und ihre Augen groß. Er sprach weiter aufmunternd auf sie ein, war sich aber bewußt, daß sie ihm gerade gar nicht zuhörte. Das war in Ordnung. 'Jetzt zähle eins und eins zusammen und behalte bitte die Nerven, Jade.'


Jades Unterkiefer klappte herunter. 'Was ist denn das?!'
Vor wenigen Minuten hatte sie im Spiegel geprüft, ob ihre Klamotten noch ordentlich saßen und sie auch nicht rot wie eine Tomate geworden war vor Anstrengung. Schon vorher hatte sie ein paar Mal kurz zu ihm hinübergeschaut, als er rannte, hatte aber befürchtet sich durch die riesigen Spiegel beim Spannen zu verraten, und hatte gerade zu ihm hinüberschlendern wollen, um ihn wie angekündigt anzufeuern, als er auch schon abgestiegen und zu ihr gekommen war. Als er sie ansprach wollte sie die Gelegenheit nutzen sich ihn heimlich noch mal von hinten anzusehen.
Und jetzt...

'Er hat kein Spiegelbild!'  dachte sie perplex. Das war doch gar nicht möglich. Der Spiegel mußte kaputt sein! 'Spiegel gehen nicht auf diese Weise kaputt!'  Oder es war gar kein Spiegel. Sich selbst sah sie aber problemlos, und auch das Laufband und alles andere um sie herum spiegelte sich dort wieder. Das mußte ein Zaubertrick sein, mit dem er sie veräppeln wollte nach ihrem Gespräch über Feen, Elfen und Vampire in der letzten Woche. Keine Ahnung, wie er das machte, aber es mußte mit dem Personal hier abgesprochen sein, um sie hereinzulegen.
Die junge Frau fragte sich, warum er das tat. Es war doch sonst nicht Calebs Art sie auf den Arm zu nehmen. Probte er hier einen Auftritt für das nächste Humorfestival und wollte hinterher ihre Meinung dazu hören? War er doch ein Rollenspieler und hatte bald ein Treffen, für das er seine Rolle einstudierte? War den Vampir zu spielen eventuell sogar eine Marotte von ihm, die er erst jetzt, wo sie sich schon vier Monate lang kannten, offen zeigen wollte? Oder war das vielleicht seine Art, sie nach der Erkältung und nun auch nach der Sache mit ihrem Chef mit etwas Magie aufmuntern zu wollen? Machte deshalb auch Beryl mit?

Sie atmete tief ein. Das mußte es sein. Es war sicher freundlich gemeint, oder als Streich. Wenn es jedoch ein Streich war, dann steckte bestimmt Beryl dahinter, denn so etwas von sich aus zu tun war nicht Calebs Art, vor allem wo er doch wußte, wie viel Angst sie gehabt hatte wegen des Verrückten im Vampirkostüm vor ihrer Haustür. Sicher hatte er sich deshalb solch wahnsinnige Mühe gegeben. Der Trick sah absolut echt aus, auch wenn er vermutlich in seinen normalen Klamotten und an einem anderen Ort noch beeindruckender gewirkt hätte. Aber das war ja gerade das Süße daran. Caleb spielte den Vampir für sie und tat es so, daß es nicht beängstigend war. Jade war beeindruckt und ein kleines bißchen gerührt.
"Du bist also wirklich ein Vampir", sagte sie ruhig und lächelte, woraufhin seine grauen Augen aufleuchteten. "Ja, Teuerste!"

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